2020 beginnt für mich so wie jedes andere Jahr auch, mit einem ganz konkreten Gedanken: Noch fünf Monate, dann ist endlich wieder Freak Valley! Meistens gibt’s dann noch eine Nachricht an meinen Mitpilger Lefty, falls er nicht eh neben mir steht. Um das kleine aber oberfeine Festival im Siegerland dreht sich mein Jahr — eigentlich, muss ich mittlerweile hinzufügen. Denn fünf Monate später findet kein Freak Valley statt. Und weitere sieben Monate später, heute also, werde ich nicht mit dem Gedanken ins neue Jahr starten, “noch fünf Monate, dann ist endlich wieder Freak Valley”. Dafür ist die Situation schlicht zu ungewiss.
Doch soll es hier nicht um einen Ausblick gehen, sondern um einen Rückblick auf ein äußerst bemerkenswertes Jahr. Und damit meine ich nicht die Pandemie. Ich meine auch nicht die Konzert- und Festivaltickets im Wert von gut 500 Euro, die nach wie vor in einer magnetischen Klammer am Gasboiler in der Küche hängen. Ich meine die bemerkenswerte Menge an toller Musik, die 2020 veröffentlicht wurde. Und die Erkenntnis, die für mich damit einher ging. Doch eins nach dem anderen.
Zunächst einmal startet mein musikalisches Jahr mit einem echten Highlight. Denn so etwas wie “666 Goats Carry My Chariot” hatte ich in über 25 Jahren als Musikliebhaber schlicht noch nicht gehört. Das zweite Album der belgischen Speed-Metaller Bütcher ist vom ersten echten Song an die reinste Raserei. Und obendrein schalten die Jungs bei jedem der drei nächsten Songs jeweils einen weiteren Gang hoch. Die Steigerung des Tempos ist geradezu wahnwitzig: Beim Song “Sentinels of Dethe” angekommen fragt man sich, warum man noch kein Schleudertrauma hat. Die Antwort ist einfach: Die Songs bleiben bei aller Geschwindigkeit zu jeder Zeit nachvollziehbar. Sie bleiben sogar im Ohr. Im Januar denke ich: Möglicherweise kenne ich mein Album des Jahres bereits.
Der Februar erweist sich als nur einer von zwei Monaten des Jahres, bei dem keine Neuveröffentlichung meine musikalische Erinnerung Nummer eins ist. Der Grund: Am letzten Wochenende des Monats besuche ich bis dato zum letzten Mal ein Club-Konzert: Death Angel, Exodus und Testament im Wiesbadener Schlachthof. Dass ich nun seit 10 Monaten ohne Clubkonzertbesuch bin, hätte ich frühestens für mein Lebensende erwartet. Normal sind etwa 20 pro Jahr.
Der März bringt eines der von mir am heißesten herbei gesehnten Alben des Jahres, das fünfte von Elder. Nach vier Longplayern mit kontinuierlich mehr Bottom End überrascht “Omens” klanglich und stilistisch: Es ist das Bass-ärmste Album der Band aus Boston und Berlin, außerdem hat man den Wandel vom Doom Metal hin zum Prog Rock nun vollständig abgeschlossen. Die Songs sind filigraner denn je und Bandleader Nick di Salvo singt selbstbewusster als zuvor. Doch werde ich einen Eindruck nicht los: Die Kompositionen sind so ausgereift, dass di Salvos stimmliches Potenzial damit leider nicht mehr Schritt halten kann — trotz seiner bisher besten Gesangsleistung. Anwärter auf mein Album des Jahres ist “Omens” nie so wirklich. Das liegt jedoch auch daran, dass im April zwei Alben erscheinen, die mein persönliches Jahr sehr viel tiefer prägen.
Zunächst einmal sind da Dool mit “Summerland“. Ich mach’s kurz: Melodien in dieser Qualität und Fülle habe ich seit “OK Computer” von Radiohead nicht mehr gehört, mein Album des Jahres scheint in Stein gemeißelt.
Später im April wird das Wetter besser, zu Ostern ist es angenehm warm. Das heißt: Ich verbringe meine wache Zeit draußen oder zumindest auf dem Balkon. Passend dazu bekommen wir am Gründonnerstag das Debüt einer Band namens Brass Owl aus Ohio zugeschickt. “State of Mind” heißt das Werk, bietet Blues Rock par excellence und läuft über Ostern pausenlos über meine Kopfhörer. Mehr noch: In den Sommermonaten erweist es sich als wirksamste Ersatzdroge gegen den Festival-freien Sommer.
Im Mai bereiten mir die Retro-Rocker Horisont aus Schweden eine ganz besondere Überraschung zum Geburtstag: Zum fünften Mal in Folge, veröffentlichen sie mit “Sudden Death” ein Album, das noch ein kleines bisschen stärker als sein jeweiliger Vorgänger ist. Eine beispiellose Serie. Diese Band wird einfach immer besser!
Ähnliche Qualitätsgaranten, aber ungleich schwerer zugänglich, sind die Vorzeige-Funeral-Doomster Bell Witch aus Portland. Im Juni veröffentlichen sie “Stygian Bow Vol 1” – geschrieben und aufgenommen zusammen mit Dark-Folk-Impressario Erik Moggridge alias Aerial Ruin. Ich höre es zum ersten Mal nachts in freier Natur – ein nachhaltiges Erlebnis… dass ich mangels eines Reviews meinerseits etwas näher schildere.
Während eines Camping-Wochenendes mit Freunden laufe ich eines späten Abends allein los, ziehe zeitgleich meine Kopfhörer auf und starte das Album. Weit komme ich jedoch nicht. Denn es ist stockfinster und die ersten Klänge von “Stygian Bow Vol 1” sind unheimlich, sehr unheimlich sogar. Und als der eindringliche Gesang von Moggridge einsetzt, wird es noch unheimlicher. Keine 50 Meter vom Zelt entfernt setze ich mich an einem kleinen Hang ins Gras, blicke auf das Maisfeld vor bzw. unter mir, den Wald dahinter und den sternenklaren Himmel darüber. Hinter mir ist der Campingplatz, das Zelt in Sichtweite. Doch schaue ich dort die nächste Stunde nicht mehr hin.
Erstens ist das Szenario vor mir eine wahre Pracht, zweitens will ich nicht wissen, was — oder wer, oder ob wer? — hinter mir ist, drittens saugt mich die Musik vom ersten Moment an komplett auf.
“The Bastard Wind” heißt der erste Song, Moggridge singt im akustischen Intro dazu von “endless waves” und fragt am Ende der zweiten Strophe, kurz vor dem Einsatz der Band: “Will an essence you drown now cast you away… to sand and clay?” Die Antwort darauf ist klar, es handelt sich schließlich um Doom. Konkret: “Stygian Bow Vol 1” ist der Soundtrack zum Ertrinken eines Seemanns, zur finalen Reise auf den Meeresgrund (“sand and clay”).
Die musikalische Umsetzung ist genial: Die Riffs rotieren wie ein gigantischer Abwärtsstrudel, die spärlich eingesetzten Drums tönen im Mix immer aus einer anderen Position und bleiben dabei stets im Hintergrund — eben wie etwas, das der gigantische Strudel in Kreisbewegungen nach unten zieht. Der Effekt auf mich: Ich fühle mich beengt und meine, nach Luft schnappen zu müssen. Obwohl ich auf das freie Feld schaue, frische Luft atme und kein See, geschweige denn der Ozean, in Sichtweite ist. Was Musik mit einem anstellen kann, ist schlicht der Wahnsinn!
Stellt sich die Frage: Ist “Stygian Bow Vol 1” mein Album des Jahres? Abwarten. Das Jahr ist noch jung. Außerdem lässt der nächste Kandidat nicht lange auf sich warten. Er kommt im August — und wie zuvor schon Bütcher und Black Owl völlig aus dem Nichts.
“Forgotten Memories of Tomorrow” von Ethereal Sea aus Kalifornien erreicht mich am heißesten Tag des Jahres. Und ich bin mir absolut sicher, dass das Album auch “morgen” keine “vergessene Erinnerung” sein wird. Dafür war der Erstkontakt ganz einfach zu “memorabel”…
Es ist Samstagmorgen, ich wache in nassgeschwitzten Laken auf, dusche mich und frage mich keine halbe Stunde später: Ist mein T-Shirt nass, weil ich mich nicht richtig abgetrocknet habe, oder schwitze ich schon wieder? Keine Ahnung. Ich tue, was ich immer tue, wenn ich nicht weiterweiß: Ich höre Musik. Im Optimalfall auf der Couch und über die Anlage. So wie an diesem Tag. Die Wahl der Musik erklärt sich von selbst: das gerade erst eingetrudelte Album von Ethereal Sea.
In sehr seltenen Fällen höre ich einen neuen Longplayer dreimal am Stück — bei entsprechender Begeisterung und genügend Zeit. Das Ding von Ethereal Sea läuft an diesem Morgen ungeschlagene fünfmal hintereinander. Weil die Mucke so lässig und leichtfüßig ist, dass sie mich runter kühlt und trocken hält. Als “Junk Monkey“, der letzte Song auf dem Album, zum fünften Mal seinem Höhepunkt entgegensteuert, einem absoluten Killerbreak, ist meine Rezension längst veröffentlicht. Ich setze mich auf mein Rad, fahre mit einem Freund an einen bewaldeten Rheinstrand in Mainz, packe meine Bluetooth-Box aus, starte die Musik und sage zu Toni: “Cool, oder?”
Noch cooler ist dieses Jahr nur einer: Der wunderbare Felix Melchardt aus Passau, Organisator des Blackdoor-Festivals. Er ist Teil eines Teams, das die lokalen Behörden mit einem Sicherheitskonzept überzeugen kann, um in Neuhaus am Inn drei eintägige Konzert-Veranstaltungen durchzuziehen.
Der Freitag steht stilistisch im Zeichen von Blackdoor: Stoner, Blues und Psychedelic Rock. Ozzymandias aus Wien machen den Anfang, Filistine aus der Oberpfalz und Mount Hush aus den Alpen weiter und My Sleeping Karma aus „Aschebersch“ (Aschaffenburg) den krönenden Abschluss! Ganz klar: An keinem Tag war ich dieses Jahr glücklicher als am 21. August in Neuhaus am Inn. Danke, Felix.
Mit sechs Kandidaten im Rennen beginnt das Spätjahr. Das sind deutlich mehr als sonst zu diesem Zeitpunkt. Und noch sind fünf Monate Zeit für weitere Glanztaten — eine durchaus berechtigte Hoffnung, wie sich herausstellt. In Floskeln formuliert: Es folgt ein “heißer Herbst” mit “goldenem Oktober”.
Los geht’s mit dem wahrscheinlich unwahrscheinlichsten Kandidaten: Die Hardrock- und AOR-Legenden Blue Öyster Cult bringen nach 20 Jahren ohne neue Musik ein Comeback-Album an den Start, das auf Augenhöhe mit den Klassikern der Band steht. Abgesehen von Alice in Chains ist das keiner mir bekannten Band jemals gelungen. Man kann dem Album-Titel nur zustimmen: “The Symbol Remains” — Hut ab, die Herren!
Ungleich höher, in etwa so wie bei Elder, sind meine Erwartungen an das jeweils vierte Album der US-Schwerenöter von Pallbearer und Spirit Adrift, die am 16. bzw. 23. Oktober erscheinen. Der Unterschied: Während Pallbearer mit “Forgotten Words” einfach nur ein weiteres starkes Album abliefern, legen Spirit Adrift den bisher größten Sprung in ihrer Entwicklung hin: Das Songwriting auf “Enilghtened in Eternity” trägt die Handschrift eines Vollprofis, der Sound setzt Maßstäbe — heavy wie ein Kugelstoßer, leichtfüßig wie ein Marathonläufer.
Kurz vor dem Winter kommt dann noch “Before the Winter” von den Retro-Rockern Witchwood aus Italien, die ich ehrlich gesagt gar nicht mehr auf dem Radar hatte. Vergleichsweise verhalten war mein erster Eindruck: “Oh, die sind aber wieder gut”, dachte ich. Beim nächsten Hören ein paar Tage später steigerte sich das “gut” zu einem “verdammt gut” und dann zu einem “besser waren die noch nie”. So etwa drei Wochen nach Erhalt des Albums hatte ich Freudentränen in den Augen beim Hören. Und als ich das hier schreibe, kommen die Freudentränen beim Gedanken daran zurück — ungelogen.
Und damit bin ich nun auch an dem Punkt angelangt, die Katze aus dem Sack zu lassen. Ich sag’s mal so: Wäre das Hauptkriterium Melodien gewesen, dann wäre “Summerland” von Dool mein Album des Jahres geworden, wäre es Intensität gewesen, hätte ich mich für Bell Witch & Aerial Ruin entschieden. Für alle abgebildeten Alben wäre es mir leicht gefallen, die entsprechenden Gründe zu finden. Doch verlasse ich mich auf mein Bauchgefühl. Es sagt mir, dass Feeling das wichtigste Kriterium ist. Und damit ist “Before the Winter” von Witchwood mein ganz persönliches Album des Jahres. Nun ist nämlich auch Winter und aktuell füllt mich keine andere Platte so sehr mit Wärme wie diese.
Mit Witchwood in den Ohren gehe ich nun also ins neue Jahr, zudem mit der eingangs erwähnten Erkenntnis. Und die lautet so: Am allermeisten freue ich mich im neuen Jahr auf die Alben, die ich nicht auf dem Zettel habe, oder deren Interpreten ich noch gar nicht kenne. Denn die echten Highlights sind die, mit denen man gar nicht rechnet. Und wegen der ungelösten Festival-Frage werde ich heute um Mitternacht an all die schönen musikalischen Überraschungen denken, die ich nicht kommen sehe. Doch dass sie kommen, das steht außer Frage.
Allen Lesern alles Gute fürs neue Jahr!
Euer Matze